Zählen, berechnen, vergleichen

Nicht nur Bilder und Sprache prägen unsere Wahrnehmung. Wir leben in einer Welt, in der Zahlen allgegenwärtig sind. Mit Zahlen erfassen und organisieren wir unsere Wirklichkeit, im Privaten ebenso wie in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

Zahlen und Statistiken vermitteln eine hohe Glaubwürdigkeit. Doch lässt sich durch Darstellung und Vergleichswerte steuern, was sie aussagen und wie sie auf die Betrachtenden wirken. So ist es wichtig, nach Standpunkt und Zielsetzung zu fragen, wenn Verantwortliche in Politik und Verwaltung sie als Basis für weitreichende Erklärungen und Entscheidungen nutzen.

Familiennachzug

Ein Beispiel für den strategischen Umgang mit Zahlen ist die politische Debatte, die 2015/2016 um die Frage des Familiennachzugs geführt wird. Bis 2016 haben Geflüchtete nach deutschem Recht einen Anspruch darauf, Ehemann oder Ehefrau, minderjährige Kinder bzw. Eltern nachzuholen. 2016 wird der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ausgesetzt. Als Argument dienen Zahlen, die im Umlauf, damals aber nicht überprüfbar sind. Politische Parteien nutzen die Verunsicherung in der Bevölkerung, um die Zahlen bewusst für ihre politischen Ziele einzusetzen.

Welche Zahlen sind2015 und 2016 im Umlauf?

Wer hat was wann gesagt?

4.10.2015Lorenz Caffier (Innenminister Mecklenburg-Vorpommern, CDU), Interviewbeitrag, Welt am Sonntag.
„Meine ganz persönliche Meinung ist, dass wir in diesem Jahr insgesamt 1,2 bis 1,5 Millionen Flüchtlinge verzeichnen werden.“
Ilse Aigner (Bayerische Wirtschaftsministerin, CSU), Interviewbeitrag, 9.10.2015, Bayerischer Rundfunk.
Horst Seehofer (Bayerischer Ministerpräsident, CSU), Pressestatement, 21.1.2016, infoNetwork GmbH/n-tv.
Sahra Wagenknecht (Fraktionsvorsitzende DIE LINKE.), Pressestatement, 10.11.2015, Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.
Sigmar Gabriel (Parteivorsitzender SPD), Pressestatement, 29.1.2016, phoenix.
Thomas de Maizière (Bundesminister des Innern, CDU), Bundestagsrede, 19.2.2016, Bundesministerium des Innern.
8.6.2016Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)Pressemitteilung, BAMF
Katrin Göring-Eckardt (Fraktionsvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Pressestatement, 8.6.2016, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
„Die aktuellen BAMF-Zahlen sprechen dafür, die gesetzlich beschlossene Aussetzung des Familiennachzugs sofort wieder aufzuheben. Wir müssen verhindern, dass sich jetzt Frauen und Kinder auf die Boote und die gefährliche Mittelmeeroute begeben, weil die legalen Zugangswege versperrt sind. Die kolportierte Verdrei- oder Vervierfachung der Zugangszahlen durch den Familiennachzug hatte und hat keine sachliche Grundlage.“

Politische Entscheidung: Aussetzung des Familiennachzuges von 2016 bis 2018.

Nach der zweijährigen Aussetzung wird der Familiennachzug 2018 noch einmal neu geregelt. Die Anzahl der Familienmitglieder, die einreisen dürfen, wird auf 12.000 Personen jährlich begrenzt. Diese Zahl wird jedoch nie erreicht. Ein kompliziertes Verfahren und lange Bearbeitungszeiten verhindern vielfach den Familiennachzug.
Zahlen als Entscheidungsgrundlage und Lösung für politische Herausforderungen sind allgegenwärtig. Die Menschen, die von den Entscheidungen betroffen sind, geraten dabei leicht aus dem Blick.