WAS BEDEUTEN
ZAHLEN?
Zählen, berechnen, vergleichen
Nicht nur Bilder und Sprache prägen unsere Wahrnehmung. Wir leben in einer Welt, in der Zahlen allgegenwärtig sind. Mit Zahlen erfassen und organisieren wir unsere Wirklichkeit, im Privaten ebenso wie in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
Zahlen und Statistiken vermitteln eine hohe Glaubwürdigkeit. Doch lässt sich durch Darstellung und Vergleichswerte steuern, was sie aussagen und wie sie auf die Betrachtenden wirken. So ist es wichtig, nach Standpunkt und Zielsetzung zu fragen, wenn Verantwortliche in Politik und Verwaltung sie als Basis für weitreichende Erklärungen und Entscheidungen nutzen.
Familiennachzug
Ein Beispiel für den strategischen Umgang mit Zahlen ist die politische Debatte, die 2015/2016 um die Frage des Familiennachzugs geführt wird. Bis 2016 haben Geflüchtete nach deutschem Recht einen Anspruch darauf, Ehemann oder Ehefrau, minderjährige Kinder bzw. Eltern nachzuholen. 2016 wird der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre ausgesetzt. Als Argument dienen Zahlen, die im Umlauf, damals aber nicht überprüfbar sind. Politische Parteien nutzen die Verunsicherung in der Bevölkerung, um die Zahlen bewusst für ihre politischen Ziele einzusetzen.
Welche Zahlen sind2015 und 2016 im Umlauf?
1.100.000
Zahl
Vorläufige Schätzung
2015 ankommende Geflüchtete
Thomas de Maizière (CDU),
Bundesinnenminister, Pressekonferenz
am 6.1.2016
Quelle
Datenbasis:
Erhebungen nach dem EASY-System
Bei der Registrierung über das EASY-System können Mehrfach- und Fehlzählungen nicht ausgeschlossen werden. Als die Zahl in Umlauf gebracht wird, sind diese Probleme bekannt.
Hintergrund/Kritik
1.200.000 bis
1.500.000
Zahl
Schätzung 2015
ankommende Geflüchtete
Lorenz Caffier (CDU),
Innenminister Mecklenburg-Vorpommern,
gegenüber der Welt am Sonntag am 4.10.2015
Quelle
Datenbasis:
Persönliche Einschätzung
Lorenz Caffier nennt keine Quelle für seine Schätzung. Einen Tag später greift die BILD-Zeitung die Zahl auf und beruft sich auf „interne Prognosen von Behörden“, ohne Angaben dazu, welche „Behörden“ gemeint sind. Das Bundesinnenministerium zweifelt die Zahl an.
Hintergrund/Kritik
3.000.000
Zahl
Schätzung 2015
ankommende Geflüchtete inklusive Familiennachzug
Armin Schuster (CDU),
Obmann der Unionsfraktion im Innenausschuss,
gegenüber der WELT am 1.1.2016
Quelle
Datenbasis:
Persönliche Einschätzung
Armin Schuster beruft sich auf Einschätzungen von „Amtsleitern der Ausländerbehörden“, die von einer Verdreifachung der Geflüchteten durch den Familiennachzug ausgehen. Er gibt weder Auskunft über die Berechnungsgrundlage noch über die Hintergründe der Vervielfachung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zweifelt die Berechnung an.
Hintergrund/Kritik
441.899
Zahl
Asylerstanträge 2015
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
Broschüre, September 2016
Quelle
Datenbasis:
Auswertung des Ausländerzentralregisters (AZR)
Oft gibt es lange Wartezeiten zwischen der Ankunft in Deutschland und der Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Die Zahl gibt deshalb keine Auskunft darüber, wie viele Geflüchtete 2015 angekommen sind.
Hintergrund/Kritik
890.000
Zahl
Bereinigte, offizielle Zahl 2015 in Deutschland
angekommene Geflüchtete
Thomas de Maizière (CDU),
Bundesinnenminister,
Pressekonferenz am 30.9.2016
Quelle
Datenbasis:
Nachregistrierung der bisher dezentralen Erfassung auf Länderebene (EASY)
mit dem zentral auf Bundesebene verwalteten Ausländerzentralregisters (AZR)
Die Zahl beinhaltet alle im System registrierten Geflüchteten. Darunter sind 50.000, die bereits zurück- oder weitergereist sind.
Hintergrund/Kritik
???
Zahl
Geflüchtete, die in Deutschland sind, sich aber nicht gemeldet haben
Quelle
Datenbasis:
Zählung nicht möglich.
Es gibt keine Meldepflicht für Geflüchtete, sie müssen sich aber registrieren lassen. Wer das nicht tut, gilt als illegal eingereist und macht sich strafbar.
Hintergrund/Kritik
Wer hat was wann gesagt?
4.10.2015Lorenz Caffier (Innenminister Mecklenburg-Vorpommern, CDU), Interviewbeitrag, Welt am Sonntag.
„Meine ganz persönliche Meinung ist, dass wir in diesem Jahr insgesamt 1,2 bis 1,5 Millionen Flüchtlinge verzeichnen werden.“
Ilse Aigner (Bayerische Wirtschaftsministerin, CSU), Interviewbeitrag, 9.10.2015, Bayerischer Rundfunk.
Horst Seehofer (Bayerischer Ministerpräsident, CSU), Pressestatement, 21.1.2016, infoNetwork GmbH/n-tv.
Sahra Wagenknecht (Fraktionsvorsitzende DIE LINKE.), Pressestatement, 10.11.2015, Fraktion DIE LINKE. im Bundestag.
Sigmar Gabriel (Parteivorsitzender SPD), Pressestatement, 29.1.2016, phoenix.
Thomas de Maizière (Bundesminister des Innern, CDU), Bundestagsrede, 19.2.2016, Bundesministerium des Innern.
8.6.2016Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)Pressemitteilung, BAMF
Katrin Göring-Eckardt (Fraktionsvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Pressestatement, 8.6.2016, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
„Die aktuellen BAMF-Zahlen sprechen dafür, die gesetzlich beschlossene Aussetzung des Familiennachzugs sofort wieder aufzuheben. Wir müssen verhindern, dass sich jetzt Frauen und Kinder auf die Boote und die gefährliche Mittelmeeroute begeben, weil die legalen Zugangswege versperrt sind. Die kolportierte Verdrei- oder Vervierfachung der Zugangszahlen durch den Familiennachzug hatte und hat keine sachliche Grundlage.“
Politische Entscheidung: Aussetzung des Familiennachzuges von 2016 bis 2018.
Nach der zweijährigen Aussetzung wird der Familiennachzug 2018 noch einmal neu geregelt. Die Anzahl der Familienmitglieder, die einreisen dürfen, wird auf 12.000 Personen jährlich begrenzt. Diese Zahl wird jedoch nie erreicht. Ein kompliziertes Verfahren und lange Bearbeitungszeiten verhindern vielfach den Familiennachzug.
Zahlen als Entscheidungsgrundlage und Lösung für politische Herausforderungen sind allgegenwärtig. Die Menschen, die von den Entscheidungen betroffen sind, geraten dabei leicht aus dem Blick.