Wer ist ‚wir‘?
Freiwillig oder erzwungen, auf legalen oder illegalen Wegen, auf Zeit oder dauerhaft: Immer mehr Menschen leben außerhalb ihres Geburtslandes.
Migration verändert schon immer die Welt, in der wir leben. Nationalstaaten allerdings sehen sich dadurch vor Herausforderungen gestellt: Geltendes Recht und herkömmliche Instrumente zur Gestaltung von Politik und Gesellschaft entsprechen vielerorts nicht mehr den Notwendigkeiten und Bedürfnissen einer mobilen und vielfältigen Bevölkerung.
Ein wichtiges Thema ist dabei die Bedeutung von Staatsbürgerschaft. Passt dieses Konzept von nationaler Zugehörigkeit noch in eine Zeit, in der viele Menschen sich mehr als einem Ort oder Staat dieser Welt verbunden fühlen? Was ist mit jenen, die in Deutschland leben, ohne einen deutschen Pass zu besitzen?
Ein Pass – amtlich auch „Nationalpass“ – dient dem Nachweis über Identität und Staatsangehörigkeit eines Menschen. Alle die im Besitz des deutschen Passes sind, genießen innerhalb Deutschlands volle Bürgerrechte.
Alle Deutschen haben ein Recht darauf…
… selbst zu entscheiden, wo sie innerhalb Deutschlands leben wollen.
… ihren Beruf, den Arbeitsplatz oder die Ausbildungsstätte frei zu wählen.
… sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
… Vereine und Gesellschaften zu bilden.
… sich gegen Angriffe gegen die demokratische Ordnung zu wehren.
… sich bei Wahlen durch Stimmabgabe zu beteiligen.
… bei Wahlen zu kandidieren und sich wählen zu lassen.
… dass ihnen die Staatsbürgerschaft nicht entzogen wird.
… dass sie nicht an das Ausland ausgeliefert werden.
Der deutsche Pass bedeutet politische Teilhabe und Sicherheit. Wer nicht als Kind deutscher oder dauerhaft in Deutschland lebender Eltern per Geburt deutsch ist, kann es durch Einbürgerung werden. Aber die Hürden sind hoch.
Alle, die den deutschen Pass durch Einbürgerung bekommen, müssen…
… seit acht Jahren dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland wohnen.
… ihr Identität nachweisen können.
… ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzen.
… den Lebensunterhalt für sich und die Familie finanzieren können - ohne Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II.
... gute Deutschkenntnisse haben.
… gute Kenntnisse über die Rechts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland haben.
… sich zur freiheitlich- demokratischen Grundordnung bekennen.
… sich in die „deutschen Lebensverhältnisse einordnen“.
… ohne Vorstrafen sein.
… ihre bisherige Staatsbürgerschaft in der Regel aufgeben.

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Passgeschichten
Die Staatsangehörigkeit regelt, wer rechtlich und politisch „dazugehört“ und wer nicht. Doch der Pass allein bestimmt nicht das Zugehörigkeitsgefühl. Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen sind entscheidend. Hier berichten zehn Menschen, was ihnen ihr Pass bedeutet.

Anas S.
Ich komme aus Syrien. Mein syrischer Pass wurde vom syrischen Geheimdienst beschlagnahmt. Mit einem Reisedokument der deutschen Botschaft im Libanon konnte ich fliehen. Der Passersatz hat mein Leben gerettet. Er gewährt mir aber nicht die gleichen Rechte wie den Deutschen. Das macht es mir schwer, meine Zukunft zu gestalten. Erst der deutsche Pass erlaubt es Menschen, sich hier zu verwurzeln. Ich würde gerne wählen, denn Demokratie ermöglicht Zugehörigkeit. Das Land sollte jenen gehören, die Verantwortung übernehmen.

Gülsah S.
Ich bin als Ausländerin in Schleswig-Holstein geboren. Bis zu meinem 16. Lebensjahr hatte ich einen türkischen Pass. In der Türkei habe ich aber nie gelebt. Vor meiner Einbürgerung hatte ich immer Angst, ausgewiesen zu werden. Meine Eltern waren ehrliche, hart arbeitende Leute. Aber wir wohnten in einer Gegend, in der viele Menschen prekär lebten. Einmal stürmten gepanzerte Männer unsere Wohnung, weil sie uns der Geldfälschung verdächtigten. Sie fanden nichts, trotzdem fürchtete ich, Deutschland verlassen zu müssen. Ohne den deutschen Pass fühlte ich mich stets wie jemand, der nicht hier sein darf. Bei jeder Reise in die Türkei hatte ich Angst, dass ich mein Zuhause nicht wiedersehen werde. Seit ich den deutschen Pass habe, reise ich nur noch damit.

Christian Z.
Ich bin in Deutschland geboren. Auch meine Vorfahren stammen von hier. Als Staatsbürger besitze ich alle Teilhaberechte, darf also zum Beispiel an Wahlen teilnehmen. Für mein Zugehörigkeitsgefühl ist aber wichtiger, dass ich Zugang zu kostenloser Bildung und Sozialleistungen habe und dass ich in einem Rechtsstaat lebe. Obwohl Deutschland all das bietet, sehe ich Staat und Politik oft kritisch. Ich engagiere mich für eine Gesellschaft, in der Allgemeinwohl und Menschenrechte das Handeln aller leiten.

Joshua F.
Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Mein Vater ist ein schwarzer US-Amerikaner, der als Soldat in Deutschland stationiert war. Ich habe nie länger in einem anderen Land als Deutschland gelebt. Meinen privaten und beruflichen Lebensmittelpunkt sehe ich deshalb klar hier. Ich fühle mich aber nicht immer als Mitglied der Gesellschaft akzeptiert. Besonders in ländlichen Gegenden werde ich gefragt, wo ich herkomme. Auf meine Antwort Bremen folgen meist Nachfragen zu meiner „wirklichen Herkunft“.

Shuah B.
Ich habe von Geburt an die deutsche und die amerikanische Staatsangehörigkeit. Ich bin in Berlin geboren und zur Schule gegangen, habe in Deutschland studiert und arbeite hier. Ich sehe mich primär als deutsche Staatsbürgerin, fühle mich aber auch der amerikanischen Sprache und Kultur nahe. In Deutschland fühle ich mich akzeptiert, wegen meines Namens werde ich aber manchmal nach meiner Herkunft gefragt. Oft reise ich zu Freunden und Verwandten in die USA und nutze dort bei Wahlen auch mein Stimmrecht.

Marina L.
Ich stamme aus Brasilien. Nach meinem Studium bin ich 2007 nach Deutschland gekommen. Erst 2013 erhielt ich eine unbeschränkte Arbeitserlaubnis. 2016 habe ich die Einbürgerung beantragt. Ich musste meine finanzielle Unabhängigkeit nachweisen und Sprach- und Einbürgerungstests bestehen. Acht Monate nach dem Antrag wurde die Einbürgerung bewilligt. Seit 2016 bin ich deutsche Staatsbürgerin und arbeite als Lehrerin. Ich fühle mich in Berlin sehr wohl und habe viele enge Freundschaften geknüpft.

Alex T.
Ich bin in Deutschland geboren und besitze die deutsche Staatsangehörigkeit. Seit ich 21 Jahre alt bin wohne ich in London. Ich fühle mich in erster Linie als Londonerin, aber auch als Deutsche und Europäerin. Seit dem Brexit hat sich für mich vieles geändert. Obwohl ich mit einer Britin verheiratet bin, war nicht klar, ob ich bleiben kann. Mittlerweile habe ich auch die britische Staatsangehörigkeit. Es war ein langer, schwieriger Prozess. Meine deutsche Staatsangehörigkeit hätte ich niemals aufgegeben.

Thomas F.
Ich bin 1955 in der DDR geboren. In meiner Jugend hatte ich Probleme mit den engen Grenzen der DDR-Diktatur, wollte selbstbestimmt leben und Meinungsfreiheit. Deshalb beschloss ich, in die Bundesrepublik zu fliehen. Mein im Westen lebender Cousin besorgte mir einen Reisepass, den er mit gefälschten Stempeln und einem neuen Foto versah. Unter dem Namen Philip R. gelang mir im Juli 1974 die Flucht. In Westen habe ich ohne Probleme einen neuen Reisepass erhalten – diesmal mit meinem richtigen Namen.

Tatjana W.
Ich bin in der Sowjetunion geboren, genauer gesagt in Sibirien. Dorthin war meine Mutter 1941 als Wolgadeutsche deportiert worden. In meiner Kindheit wurden wir als ‚Faschisten‘ beschimpft. Später wusste niemand mehr von meinen deutschen Wurzeln. Ich war zufrieden mit meinem Leben, aber meine Mutter wollte 1994 unseren Verwandten nach Deutschland folgen. Die ersten Jahre hier waren schwer. Ich habe mich lange als Russin gefühlt. Meinen russischen Pass habe ich irgendwann nicht mehr verlängert, aber meinen ersten deutschen Pass habe ich bis heute aufbewahrt.

Mahmoud S.
Ich bin in Syrien geboren. Dort habe ich bis zu meiner Flucht im Jahr 2015 gelebt. Die syrische Staatsangehörigkeit habe ich nie besessen. Meine Eltern sind 1948 aus Palästina nach Syrien geflüchtet. Wie sie habe ich einen syrischen Pass für palästinensische Flüchtlinge. Trotzdem fühlte ich mich als Mitglied der syrischen Gesellschaft akzeptiert. In meinem deutschen Pass-Ersatzpapier steht „ungeklärte Staatsangehörigkeit“. Ich empfinde das als Leerstelle, die schmerzt. Ich habe eine Herkunft.

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Wer darf Deutschland politisch mitgestalten?
Wer als Mitglied einer Gesellschaft formal anerkannt und respektiert wird, ist ein ständiger Aushandlungsprozess. Auch in Deutschland wird kontrovers diskutiert, wer zu diesem Land gehört und wer nicht. Wer die deutsche Gemeinschaft allein durch deutsche Herkunft, Sprache und Kultur bestimmt, erlebt Migration vor allem als Problem und Bedrohung. Wer offen ist für Vielfalt und Veränderung, für den gehört Migration zur gesellschaftlichen Normalität, die von allen gemeinsam gestaltet werden muss.
Wahlrecht ohne Staatsbürgerschaft
DIE IDEE
Nicht die Staatsbürgerschaft, sondern der Lebensmittelpunkt entscheidet über den Anspruch auf das Wahlrecht.
DIE BEGRÜNDUNG
Alle Menschen, die den Gesetzen eines Staates unterworfen sind, müssen diese mitbestimmen dürfen.
Es gibt Staaten, die Wahlrechte auch ohne entsprechende Staatsbürgerschaft gewähren. In Neuseeland etwa dürfen Menschen, die seit mindestens einem Jahr legal dort wohnen, an den nationalen Wahlen teilnehmen; in Chile nach fünf, in Malawi nach sieben und in Uruguay nach 15 Jahren. In der Hälfte aller EU-Mitgliedstaaten darf auch ohne Unionsbürgerschaft gewählt werden, allerdings nur auf regionaler oder kommunaler Ebene. In Deutschland haben allein Wahlberechtigte aus EU-Mitgliedstaaten das kommunale Wahlrecht.
Stadtbürgerschaft statt Staatsbürgerschaft
DIE IDEE
Alle, die in einer Stadt leben, haben unabhängig von Herkunft, Nationalität oder Aufenthaltstitel die gleichen Rechte.
DIE BEGRÜNDUNG
Mit der Stadtbürgerschaft sind Menschen ohne Papiere besser vor Auslieferung, Ausbeutung und Diskriminierung geschützt.
Vorbild für die Stadtbürgerschaft ist New York City, wo 2015 die IDNYC eingeführt wurde. Auch in Europa gibt es inzwischen Initiativen und Städte, die an einer Stadtbürgerschaft arbeiten. In der Schweiz erprobt die Stadt Bern seit 2021 dieses Modell. Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis können mit ihrer City-ID innerhalb der Stadtgrenzen z.B. leichter Miet-, Handy- und andere Verträge abschließen, Bankgeschäfte oder Arztbesuche erledigen oder ihre Kinder in der Kita anmelden. Bei Behördengängen, in Polizeikontrollen oder wenn sie eine Straftat melden wollen, müssen sie keine Angst vor Ausweisung haben.
Wer darf Deutschland politisch mitgestalten?
Kann in einer Demokratie der Pass allein Bedingung für politische Mitbestimmung sein
oder muss dieses Recht allen hier lebenden Menschen zustehen?