Familie Gedaev

Familie Gedaev lebt seit 2011 in Berlin. Krieg und massive Menschenrechtsverletzungen prägten ihr Leben in Tschetschenien. In Deutschland bestimmt ein ungeklärter Aufenthaltsstatus die ersten 10 Jahre. Trotzdem schaffen sie es, sich ein neues Leben aufzubauen.

Die Flucht

Mesker-Jurt / Tschetschenien

Luisa auf dem Markt in Mesker-Jurt, 2007

Bis 2009 befindet sich Tschetschenien im Krieg mit Russland. Auch danach gibt es unter Präsident Kadyrow Menschenrechtsverletzungen. Im Namen der sogenannten Terrorbekämpfung werden Menschen willkürlich verhaftet, gefoltert und getötet. Auch in dem Dorf Mesker-Jurt. Dort lebt die Familie Gedaev mit ihren vier Kindern. Luisa Muslimova ernährt sie durch den Verkauf von selbst angebautem Gemüse auf dem Markt.

Mesker-Jurt / Tschetschenien

Es gibt kaum Arbeit in diesen Jahren. Die Männer kümmern sich daher oft um die Kinder, während die Frauen den Lebensunterhalt verdienen. Zuvor hat Usman Gedaev für eine Organisation gearbeitet, die nach spurlos verschwundenen Menschen sucht und Unterstützung für Kriegsinvalide und Kranke leistet.

Usman mit traditioneller tschetschenischer Kopfbedeckung, 2009

Grosny / Tschetschenien

Als Usman von Kadyrows Milizen bedroht wird, entschließt sich die Familie zur Flucht. Apti muss seine Ausbildung zum Radiomechaniker abbrechen, Abu, Ayub und Aishat verlassen die Schule. In zwei Autos brechen sie Richtung Grosny auf, geraten auf dem Weg in Militärkontrollen und werden getrennt. Luisa ändert den Reiseplan und fährt mit den Kindern Apti und Aishat zu Verwandten. Sie hofft, dort den Rest der Familie wiederzutreffen.

Collage: Foto der Familie Gedaev aus Grosny und Heimat-Builder

Moskau / Russland

Erinnerung an Mesker-Jurt

Usman folgt der ursprünglichen Reiseroute und steigt wie geplant mit den Kindern Abu und Ayub in den Zug nach Moskau. Im Zug sind viele Schlepper unterwegs, die ihre Dienste anbieten. Usman lehnt ab. Luisa bleibt mit den Kindern bei den Verwandten. Allein traut sie sich nicht zurück in ihr Dorf.

Brest / Belarus

Von Moskau reisen Usman, Abu und Ayub weiter nach Brest. Dort angekommen, steigen sie in einen Regionalzug nach Polen. Luisa ist weiterhin mit Aishat und Apti bei den Verwandten in Tschetschenien. Es wird noch zwei Monate dauern, bis sie nachkommen können.

Familienbild aus der Heimat

Terespol / Polen

“Terespol train station” by Timon91 is licensed under CC BY-NC 2.0 CC Search

In Terespol werden Usman, Abu und Ayub als Flüchtlinge registriert und bekommen eine Unterkunft zugewiesen. Die Zustände sind sehr schlecht. Deshalb will Usman versuchen, mit den Kindern in Deutschland Asyl zu beantragen. Aus Angst vor Kontrollen fahren sie nicht mit der Bahn. Sie folgen dem Rat, ein Taxi zu nehmen. Die Taxifahrt kostet Usman fast sein gesamtes Geld.

Berlin

Usman, Abu und Ayub kommen im Mai 2011 in Berlin an. Nach der Registrierung werden sie im Übergangswohnheim Marienfelde untergebracht. Zwei Monate später macht sich Luisa mit Apti und Aishat auf denselben Weg. Das Geld dafür muss sie sich leihen. Usman besorgt alle Unterlagen für die Familienzusammenführung in Berlin. Die Flucht gelingt, und Familie Gedaev bleibt bis 2013 im Wohnheim.

Familienbild 2012, Berlin-Marienfelde

"Wenn man in Tschetschenien ein kleines Problem hat, kann es schnell passieren, dass es zu einem großen, lebensbedrohlichen Problem wird. Jeder muss für sich entscheiden, ob er damit leben kann, und im schlimmsten Fall mit seinem Leben bezahlt - oder ob er etwas Anderes macht."

(Usman Gedaev, 2012)

"Nur weil es mit den Papieren schwierig ist, heißt das nicht, dass die Situation unlösbar ist. So etwas gehört zum Leben. Solche Probleme hat jeder. Die wird man immer haben. Ein Anfang ist gemacht, es wird auf jeden Fall weitergehen."

(Usman Gedaev, 2016)

Das Aufenthaltsrecht der Familie Gedaev in Deutschland ist 10 Jahre nach der Flucht weiterhin ungeklärt. Nur Apti hat eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, weil seine Frau die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und sie gemeinsame Kinder haben. Alle anderen Familienangehörigen warten noch darauf. Aishats Asylverfahren läuft seit 10 Jahren. Seit 2 Jahren hat sie das Recht auf einen Aufenthaltstitel. Der Prozess stagniert aber sie gibt nicht auf.

Über Tschetschenien, die Menschenrechtslage und die Situation tschetschenischer Geflüchteter wird in Deutschland oft ungenau berichtet. Das Deutsch-Nordkaukasische Sozial- und Kulturzentrum, das Usman mitgegründet hat, bekämpft Vorurteile gegenüber der tschetschenischen Community. Auch sein Sohn Ayub hat dort ein Praktikum gemacht.

Fluchtpunkt Berlin-Marienfelde?

Wäre Familie Gedaev auch 10 Jahre später in Berlin angekommen?

2021 treibt Polen den Bau eines 190 km langen Zaun an seiner Grenze zu Belarus voran, um flüchtende Menschen am Grenzübertritt in die EU zu hindern. Zuvor war die Grenze bereits mit Stacheldraht gesichert und militarisiert. NGOs berichten seit 2017, dass Schutzsuchende an der weißrussisch-polnischen Grenze (Brest-Terespol) gestoppt werden. Laut EU-Richtlinie sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, eine Antragstellung auf Asyl zu ermöglichen; der Grenzzaun und die Grenzpraktiken verhindern das.