Familie Ghodoussi
Familie Ghodoussi ist nach langer Flucht und zeitweiser Trennung seit 2012 in Berlin vereint. Bereits 1998 müssen die Eltern Afghanistan verlassen. Ihre Kinder lernen das Land nicht mehr kennen. Als Geflüchtete im Iran werden sie stark diskriminiert. Ohne Aufenthaltsrechte sind sie ständiger Unsicherheit und Gewalt ausgesetzt. Daher fliehen sie 2010 Richtung Europa. Im Exil bedeutet ihnen die afghanische Sprache und Tradition viel. Es ist ein Anker innerhalb der vielen Neuanfänge.
Kabul / Afghanistan
Erinnerung an Ruhalas Vater
Ruhala und Mari werden in Kabul geboren und lernen sich im Elektromechanikstudium kennen. Später macht Ruhala eine Ausbildung als Polizist und arbeitet für die Armee, Mari im Sekretariat einer Schule. Ruhalas Vater wird bei einem Anschlag auf das Bergbauministeriumgetötet. Verantwortlich sind Guerilla-Gruppen, die gegen die sowjetischen Truppen und die kommunistische Regierung im Land kämpfen. Nach einigen Jahren Bürgerkrieg und dem Zusammenbruch der Regierung kommen 1994 vielerorts die Taliban an die Macht.
Teheran / Iran
Ruhala arbeitet zunächst unter den Taliban. Als er ihr Verhalten nicht mehr tolerieren will und in einen Konflikt gerät, wird er angeschossen. Er flieht mit seiner Frau, dem einjährigen Sohn, seiner Mutter und seinem ebenfalls verletzten Bruder noch aus dem Krankenhaus. Nach 40 Tagen erreichen sie über Pakistan zu Fuß den Iran. In Teheran kommen ihre anderen vier Kinder zur Welt. Als afghanische Geflüchtete im Iran haben keine Rechte, erleben Polizeigewalt und werden von Arbeit und Bildung ausgeschlossen.
Portraits von Ruhala und Mari
Türkei – unbekannte Fluchtroute
Illustration
2010 entschließt sich die Familie erneut zur Flucht. Ein Schlepper bringt sie in die Türkei. Sie bleiben dort 6 Monate, bevor sie unter großen Schwierigkeiten nach Athen fliehen. Die Flucht erfolgt per Schiff und zu Fuß. In dieser Zeit können die Kinder keine Schule besuchen. Die älteste Tochter Mozhda bringt sich in dieser Zeit selbst Türkisch und Englisch bei mit Sprachführern, die sie findet.
Athen / Griechenland
In Athen geht es für die Familie erst einmal nicht weiter. Den beiden Ältesten, Shafiolah und Mozhda, gelingt die Ausreise als Ersten. Mit dem Flugzeug werden sie in die Niederlande gebracht. Sie sind damals 12 und 14 Jahre alt. Der Rest der Familie muss in Athen bleiben.
Eindhoven / Niederlande
In Eindhoven leben Shafiolah und Mozhda bei einer Tante. Sie bleiben dort über ein halbes Jahr und besuchen auch eine Schule. Währenddessen gelingt Mari mit den Kindern Kobra und Younes die Flucht aus Athen. Im September 2011 kommen sie mit dem Flugzeug in Berlin an. Shafiolah und Mozhda reisen sofort zu ihnen. Ruhala bleibt mit dem Sohn Rafiullah in Athen zurück.
Berlin
In Berlin beantragt Mari Asyl und zieht mit den Kindern in das Übergangswohnheim Marienfelde. Ruhala und Rafiullah folgen im April 2012 im Rahmen des Familiennachzugs. Sie müssen aber zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung bleiben. Erst später können sie auch ins Wohnheim ziehen. Nach zwei Jahren ist die Familie dort zum ersten Mal wieder zusammen.
Familie Ghodoussi, Berlin – Marienfelde 2012
بعد اللجوء، السنة الأولى
پس از فرار، سال 1
Μετά τη φυγή, πρώτο έτος
Dopo la fuga, anno primo
Po ucieczce, rok 1
După evadare, Anul 1
Maisha ya Wakimbizi, Mwaka wa Kwanza
Kaçıştan sonra, yıl 1
Sau cuộc đào thoát, năm thứ
Nach der Flucht, Jahr 1
"Wir selbst haben keine Wünsche. Unser einziger Wunsch ist, dass unsere Kinder studieren. Mögen ihnen die Schwierigkeiten erspart bleiben, die wir erleben mussten - dieser 40 Jahre andauernde Krieg in Afghanistan."
(Mari Ghodoussi, 2012)
بعد اللجوء، السنة الخامسة
پس از فرار، سال 5
Μετά τη φυγή, πέμπτο έτος
Dopo la fuga, anno quinto
Po ucieczce, rok 5
După evadare, Anul 5
Maisha ya Wakimbizi, Mwaka wa Tano
Kaçıştan sonra, yıl 5
Sau cuộc đào thoát, năm thứ 5
Nach der Flucht, Jahr 5
Familie Ghodoussi, Berlin-Tiergarten 2016
Die Familie hat eine eigene Wohnung gefunden. Ihr Antrag auf Asyl wurde nach einem Jahr anerkannt. Das eigene Zuhause bringt Ruhe und Privatsphäre. Jeder kann sich zurückziehen und sich auf eigene Ziele konzentrieren.
Selbstportrait von Mozhda, Ausstellungsobjekt
Mozhda malt sehr gerne. Ihr Bild wird 2017 in der Ausstellung „Nach der Flucht“ ausgestellt. Für ihren Mittleren Schulabschluss wählt sie das Prüfungsfach Kunst, da sie sich darin leicht ausdrücken kann. Wie ihre Geschwister konnte sie lange keine Schule besuchen. Auf dem Weg zum Abitur erhält sie im Oberstufenzentrum nicht viel Unterstützung.
Kobra, Younes, Mozhda und Mari, Ausstellungseröffnung
Mozhda leistet viel Unterstützung für die Familie, lernt und arbeitet neben der Schule für einen Führerschein. Ihre Mutter kann nur noch schlecht laufen, und die Familie braucht ein Auto. Ihre Schwester Kobra steht kurz vor dem Mittleren Schulabschluss. Mozhda bringt Younes auch ihre Muttersprache Dari bei.
Mozhda in der Ausstellung 2017
Mari und Ruhala besuchen fast täglich einen Deutschkurs. Noch müssen die Kinder oft für ihre Eltern übersetzen. Die Eltern legen aber viel Wert darauf, ihre Kinder zu unterstützen und ihren Bildungsweg zu begleiten.
Sprachführer „Deutsch auf der Reise“, Ausstellungsobjekt
Neben dem Foto von Ruhalas getötetem Vater wählt die Familie als Objekt für die Ausstellung den Sprachführer „Deutsch auf der Reise“ aus. Mit diesem Buch hat sich Mozhda selbst Deutsch beigebracht, als sie noch auf einen Schulplatz in Deutschland wartete.
Die Familie hat weiterhin mit vielen Auflagen zu kämpfen, die den Einstieg in die Erwerbstätigkeit und Unabhängigkeit erschweren. Die Berufsabschlüsse der Eltern und der afghanische Führerschein werden bisher nicht anerkannt. Aber sie sind glücklich, dass nahe Verwandte nun auch in Berlin leben, und unterstützen die Neuankommenden.
"Jeder Mensch wünscht sich im Leben, sein Umfeld zu verändern, es zu verbessern. Das ist der Wunsch aller Menschen. Auch ich habe den Wunsch, mit den Menschen in dem Land, in dem ich und meine Kinder leben, in Kontakt zu kommen. Ich möchte ihnen, so gut ich kann, helfen. So wie in meinem eigenen Land möchte ich zu den Menschen eine herzliche Beziehung aufbauen."
(Mari Ghodoussi, 2016)
بعد اللجوء، السنة العاشرة
پس از فرار، سال 10
Μετά τη φυγή, δέκατο έτος
Dopo la fuga, anno decimo
Po ucieczce, rok 10
După evadare, Anul 10
Maisha ya wakimbizi, mwaka wa kumi
Kaçıştan sonra, yıl 10
Sau cuộc đào thoát, năm thứ 10
Nach der Flucht, Jahr 10
Die Familie wartet 10 Jahre nach der Flucht noch immer auf eine Niederlassungserlaubnis. Nur Mozhda konnte bereits den deutschen Pass beantragen, weil sie als Medizinische Fachangestellte ausgebildet wurde und in einer Anstellung ist. Für den Bruder Shafiolah ist die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis aufgrund seiner Selbständigkeit schwieriger zu erlangen. Er führt einen Imbiss in der Mall of Berlin, seine Brüder und Eltern unterstützen ihn dabei. Neben Gemüsedöner haben sie auch zwei afghanische Gerichte im Angebot. Obwohl der Umsatz stark unter der Covid-19-Pandemie gelitten hat, konnte er den Laden halten.
Der Bruder Rafiullah ist inzwischen mit der Schule fertig und sucht nach einem Ausbildungsplatz, der Jüngste der Familie Younes geht in die 9. Klasse. Die Schwester Kobra macht eine Ausbildung zur Sozialpädagogin. Sie erwartet ihr erstes Kind.
Mozdahs Hochzeit
Nachdem Mozdahs Hochzeit wegen der Pandemie bereits zweimal verschoben wurde, freut Mozhda sich, im Sommer 2021 endlich zu heiraten und zu Hause auszuziehen. Doch ihre traditionelle Hennazeremonie muss wegen der Pandemie ausfallen, auch ihre Hochzeitsfeier wird überschattet.
In Afghanistan kommt es durch das internationale politische Versagen zur Katastrophe, was auch das Leben der Familie Ghodoussi stark beeinflusst. Maris Bruder in Kabul schwebt seit der Machtübernahme der Taliban in größter Gefahr. Er hat unter anderem mit der EU zusammengearbeitet und gehört als Polizist zu einer besonders gefährdeten Personengruppe. Die Familie Ghodoussi sucht aktiv nach Möglichkeiten, wie er noch evakuiert und aufgenommen werden könnte. Das Aufnahmeprogramm der Bundesregierung ist seit August geschlossen und über die zivilgesellschaftliche Initiative Luftbrücke Kabul können nur wenige Menschen ausgeflogen werden, die eine schriftliche Aufnahmezusage der Bundesregierung besitzen.
Fluchtpunkt Berlin-Marienfelde?
Wäre Familie Ghodoussi auch zehn Jahre später in Berlin angekommen?
Am 15. August 2021 können die Taliban infolge des Abzugs der Nato und US-Truppen Kabul einnehmen. Zwischen 20.000 und 30.000 Menschen pro Woche fliehen deshalb aus dem Land. Nur besonders gefährdete Personengruppen können noch ausgeflogen werden. Dazu zählen unter anderem Menschen, die für die Bundeswehr oder deutsche Hilfs- und Entwicklungsorganisationen gearbeitet haben, sogenannte Ortskräfte. Die Grenzübergänge in die Nachbar- und Transitstaaten wie Iran und Türkei werden schnell geschlossen. Selbst wer es in die Türkei schafft, gelangt von dort nur noch schwer nach Griechenland. Die EU verfolgt an ihren Außengrenzen seit Jahren eine Politik der Abschottung.